Die Bedeutung des Eierlesets

Eierleset 2014 in vollem Gange

Mit buntem Frühlingsstrauss prügelt die Braut auf einen mit Stroh ausgestopften Unhold. Ein grüner Naturgeist hat ihn zu Fall gebracht. Hunderte von Schneckenhäusern zieren das Kleid eines anderen Bösewichts, der mit getrockneten Schweinsblasen auf einen Herrn im Tannenkleid drischt. Assistiert von einer weiteren Schreckgestalt in hölzerner Lockenpracht, einem in lauter Hobelspäne eingebundenen Dickwanst. Auf dem Boden daneben hockt eine alte Frau, die genüsslich mit einer schwarzen Pfanne ein paar rohe Eier zerhaut. Fruchtbarkeit soll das bringen, zumindest glaubte man das früher einmal. Mitten im Schweizer Dörfchen Effingen tobt das

 

Chaos. Rennen die Maskierten wie von Sinnen über die abgesperrte Dorfstrasse. Jauchzen und Schreien, als sei der Teufel in das wilde Heer gefahren. Immer wieder liegen die Unholde wie zappelnde Fliegen auf dem Rücken, helfen ihnen ihre Kumpanen aber immer wieder auf die Beine. Rüsten zu neuen Attacken. Es ist ein erbitterter Kampf, der da tobt. Ein Mummenschanz ohne Beispiel, der nur jedes zweite Jahr am Sonntag nach Ostern über die Bühne geht. „Eierleset“ heisst das Spektakel im Nordschweizer Kanton Aargau. Ein Brauch, wie er früher vielerorts zu Ostern verbreitet war und in einigen Orten bis heute überlebt hat.

 


Bereits Wochen zuvor beginnen die Vorbereitungen, werden die Kostüme des Maskenspiels aus dem Fundus geholt und wieder auf Hochglanz gebracht. So wie das Kleid des „Jasschärtler“, das aus vielen Hundert Spielkarten besteht. Noch mehr Sorgfalt verlangt der „Schnäggehüsler“, ein Kostüm aus lauter leeren Schneckenhäusern. Viel Arbeit macht auch der „Hobelspänler“, dessen Ringellöckchen für sein Holzkleid fachmännisch gedrechselt werden müssen. Und Stunden braucht es schliesslich, um die Stechpalmen und Tannenzweige zu besorgen, in denen am frühen Sonntagmorgen „Stechpälmler“ und „Tannästler“ eingebunden werden. Zwei kräftige Burschen hat man dafür ausgesucht, junge Männer, die den alten Brauch am Leben halten sollen. Viel zu tun haben die Frauen und Mannen des organisierenden Turnvereins. Gilt es, die Kostüme am Leib zu vernähen und den „Strohmuni“ mit vielen Dutzend Kilo leergedroschenem Stroh vollzustopfen. Einen Dickwanst, der alle Nichtigkeiten der Welt verkörpern soll. Auch den

Winter, von dem sie jetzt in Effingen die Nase voll haben. Denn genau betrachtet schicken die Schweizer bei ihrer „Eierleset“ symbolisch den Frühling gegen den Winter ins Rennen: dürre gegen grüne Gestalten.

Als Helfer assistieren den Frühlingsboten ein maskiertes Hochzeitspärchen und der „Hüehnermaa“, der früher eine Henne mit sich schleppte, um zu zeigen, wo die Eier herkommen – und die Fruchtbarkeit, die im Volksglauben mit dem Eieressen bis heute verbunden ist. Die dürren, mit Stroh ausgestopften Winterboten begleitet ein greises Pärchen. Der „Alte“ und die „Alti“ heissen sie im Volksmund, das Gegenstück zum jungen Brautpaar.

 Als Richter im Kampf der Jahreszeiten fungieren zwei dörfliche Autoritäten, ein „Pfaarer“ und ein „Polizischt“ – dazu fünf Herren des Turnvereins im schwarzen Anzug - der sogenannte Fünferrat. Herren, die früher meist als Winter- oder Frühlingsgestalten gekämpft haben, sich die Strapazen heute aber nicht mehr zumuten wollen.


Punkt 14:30 Uhr erwarten Tausende bei gutem Wetter hinter den Absperrbändern die maskierte Schar auf Effingens Dorfstrasse. Laut und ausgelassen kommt das wilde Heer aus seinem Quartier. Voran die Helden des Spiels, ein Läufer und ein Reiter hoch zu Ross. „Nun will ich Euch an Eure Pflichten mahnen, und schicken Euch auf Eure Bahnen“, lautet der Spruch, mit dem der Eier-Pfarrer die beiden auf Tour schickt. Den Reiter in die Nachbarschaft, den Läufer zum Eierlesen auf die Dorfstrasse, wo im Abstand von einem Meter 162 Eier in kleinen Sägemehlkuhlen ausgelegt wurden. Eier, die es eines nach dem anderen aufzuheben und in eine mit Spreu gefüllte Wanne am Ende der Dorfstraße zu legen gilt. Während der Läufer so rund zehn Kilometer hin- und herläuft, muss sein Kontrahent, der Ritter in vier Nachbardörfer reiten, in einem dazu noch in der Dorfwirtschaft einkehren. Der Aufwand des Reiters entspricht in der Regel der Zeit, die der Läufer zum Eiersammeln braucht. Früher war das ganz genau berechnet, dienten solche Wettkämpfe dazu, den Kindern die sogenannte Summenformel spielerisch klarzumachen.

Vom pädagogischen Nutzen des Brauches aber weiss in Effingen kaum noch einer. Deshalb richten sich die Augen der Umstehenden statt auf den Läufer auf die tobende Schar nebenan. Manche sind in Gedanken gar schon bei der

anschliessenden Eierpredigt, in der der „Pfaarer“ das Dorfleben Revue passieren lässt. Er geisselt dann die kleinen menschlichen Sünden seiner Mitbürger, redet auf einer eigens aufgeschlagenen Kanzel in den Bäumen über dem Dorfbrunnen Tacheles. „Hüt isch wiederemol de Tag vom Ei, wenn`s öpperem ned past, so sel er hei“. Trifft er ins Schwarze, johlt die Narrenschar. Noch aber ist es nicht soweit, tobt der Kampf zwischen Frühling und Winter.

 Wieder haut die „Alti“ ein paar rohe Eier entzwei, spritzen Eiweiss und Dotter ins Publikum. Früher wurden mit der Pampe ledige Frauen beschmiert, doch für solche Formen der Diskriminierung ist auch im kleinsten Schweizer Dorf heute kein Platz mehr. Dafür toben die Wilden umso ausgelassener. Irgendwann aber steht der Reiter, der als Helfer des Winters gilt, am Dorfrand, signalisiert man den sich noch immer balgenden Jahreszeiten, ihren Kampf zu beenden. Langsam geben die Strohgestalten und ihre Mitstreiter auf, nebenan klaubt der Läufer die letzten Eier von der Dorfstrasse. Ganz in Weiss verkörpert er den jungen, frischen Frühlingsboten. Erst wenn das letzte Ei in der Wanne liegt, darf der Reiter ins Dorf einziehen. Undenkbar nämlich ist, dass in Effingen der Winter über den Frühling siegt – auch wenn eine gute Autostunde weiter in den Alpen noch die Skifahrer den Ton angeben.